Artikel im Jahrbuch 1999 des Stadtteilvereins Handschuhsheim:


Verkehrssicherheit in Handschuhsheim

Schon oft hatte der siebenjährige Junge von seinen Eltern eingebläut bekommen, daß man sich genau an die Verkehrsregeln halten muß. Straßen überquert man dort, wo ein Zebrastreifen oder eine Ampel ist. Er kannte sich inzwischen aus und hielt sich an die Verkehrsregeln. So auch am Nachmittag des 4. November im letzten Jahr, als er auf dem Bürgersteig der Mühltalstraße entlang ging und die Straße auf dem Zebrastreifen in Höhe der Kriegsstraße überqueren wollte. Plötzlich ein dumpfer Schlag, der auch von den Nachbarn in der Mühltalstraße zu hören war. Ein Autofahrer übersah das Kind auf dem Zebrastreifen und konnte, obwohl er nicht schneller als die dort vorgeschriebenen 30 km/h fuhr, nicht mehr rechtzeitig bremsen. Er erfaßte das Kind und schleuderte es auf den Zebrastreifen, wo es schreiend und verletzt liegen blieb.

21. Oktober 1998: Eine über 70-jährige Handschuhsheimerin kommt vom Einkaufen zurück und will die Steubenstraße überqueren. Als sie die gegenüber liegende Straßenseite schon fast erreicht hat, wird sie von einem in Richtung Tiefburg fahrenden PKW erfaßt und auf die Fahrbahn geschleudert. Obwohl die Frau schwer verletzt am Boden liegt, begeht der Autofahrer Unfallflucht.

14. Mai 1998: Es ist ein schöner Frühlingsmorgen, als ein 25jähriger Handschuhsheimer Student vormittags mit seinem Fahrrad zur Vorlesung in die Stadt fährt. Die Sonne scheint, als er die Dossenheimer Landstraße entlangradelt. Am Hans-Thoma-Platz wird er von hinten von einem schnell fahrenden LKW überholt, der den Sicherheitsabstand nicht einhält. Der LKW streift den Fahrradfahrer, bringt ihn zu Fall und überrollt ihn. Der LKW-Fahrer kann von nachfolgenden Fahrern erst in Höhe der Pfarrgasse gestoppt werden. Trotz sofort eingeleiteter notärztlicher Hilfe stirbt der Student an seinen schweren Verletzungen noch auf dem Asphalt der Hans-Thoma-Straße.

Das sind drei von insgesamt ca. 70 Verkehrsunfällen, die allein im letzten Jahr in Handschuhsheim passiert sind. Insgesamt werden in Heidelberg jedes Jahr rund 800 Menschen bei Verkehrsunfällen verletzt, 5 bis 7 werden dabei getötet.

Das Problem besteht aber nicht nur dort, wo es zum Schlimmsten, zu einem Unfall kommt. Auch in vielen anderen Fällen führen zu schnell fahrende Autos zu Angst und Schrecken, müssen Fußgänger in Straßen ohne Bürgersteig vor heran brausenden Autos schnell ausweichen oder haben Eltern Angst um ihre Kinder auf dem Schulweg oder beim Spielen. Wo man früher noch gemütlich gehen oder auf der Straße ein Schwätzchen halten konnte, ist es in den letzten Jahren durch den zunehmenden Autoverkehr "ungemütlich" geworden.

Dieses war der Grund, daß sich Anfang 1995 Menschen aus den verschiedensten Bereichen zusammensetzten, um in unserem Stadtteil die Verkehrssituation zu verbessern und die Sicherheit zu erhöhen.

Es gründete sich eine Initiative für mehr Verkehrssicherheit, die auf Vorarbeiten der Mitweltgruppe der evangelischen Kirchengemeinde aufbauen konnte. Man traf sich im Pfarrhaus Süd, es kamen Vertreter der Interessengemeinschaft Handschuhsheim dazu, Eltern von Kindergarten- und Schulkindern und andere. Man beratschlagte, was man tun könne. Schnell wurde klar, daß man am Autoverkehr selbst nicht allzuviel ändern kann. Man könnte ihn aber sicherer machen und die Bedingungen für Alternativen zum Autoverkehr wie Fahrrad fahren und zu Fuß gehen verbessern. Schon Anfang der 80er Jahre hatte der damalige Oberbürgermeister Reinhold Zundel damit begonnen, durch eine Verringerung der Fahrgeschwindigkeiten (Tempo-30 und verkehrsberuhigte Bereiche) die Verkehrssicherheit in Heidelberg zu erhöhen. Man studierte die damaligen Erfahrungen und kam zu dem Ergebnis, daß dies ein guter Weg ist. So zeigt z.B. die Grafik "Verletzungsschwere und Geschwindigkeit" den Zusammenhang zwischen der Verletzungsschwere eines Fußgängers (senkrechte Achse) bei der jeweiligen Aufprallgeschwindigkeit eines PKW (waagrechte Achse).

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Während z.B. bei Tempo-50 die Hälfte der angefahrenen Fußgänger schwerstverletzt oder getötet wird und nur 10% leichtverletzt bleiben, steigt der Anteil der Leichtverletzten bei Tempo-30 auf 60%. Aber auch bei 30 km/h werden immer noch 23% der angefahrenen Fußgänger schwer verletzt und 17% schwerst verletzt oder getötet. Erst in verkehrsberuhigten Bereichen, wie sie der Gesetzgeber für Wohngebiete vorgesehen hat, geht der Anteil der schwerstverletzten bzw. getöteten Fußgänger bei Unfällen gegen Null und auch der Anteil schwerverletzter Verkehrsteilnehmer liegt unter 20%.

Man kann es auch so verdeutlichen: Die Zerstörungsenergie beim Aufprall mit Tempo-50 entspricht der eines Sturzes aus 10 m Höhe, bei Tempo-30 aus 3,50 m Höhe und bei Tempo-15 aus 90 cm Höhe.

Anfang 1995 beschloß man deshalb, mit einer Unterschriftensammlung von der Stadtverwaltung eine Verbesserung der Verkehrssituation zu fordern. Im Text der damaligen Unterschriftensammlung heißt es:

"Viele der schmalen Straßen im alten Ortskern haben entweder keinen Bürgersteig oder der schmale Bürgersteig ist oft zugeparkt, sodaß die Fußgänger auf der Fahrbahn gehen müssen. Dies gilt z.B. für Teile der Handschuhsheimer und der Dossenheimer Landstraße im Ortskern, die Friedensstraße, Bäumengasse, Zum Steinberg, Kleine Löbingsgasse und Löbingsgasse, Teile der Mühltalstraße, Amselgasse, Rolloßweg, Steckelsgasse, Untere und Obere Büttengasse, Rummerweg, Obere, mittlere und untere Kirchgasse, Pfarrgasse, Kriegsstraße u.a. In diesen Straßen liegen u.a. mehrere Kindergärten und eine Grundschule.

Das geltende Tempo 30 ist in diesen Straßen oft zu schnell. Die meisten Autofahrer halten sich zwar an eine angepaßte Geschwindigkeit. Aber eine Minderheit versucht auch in engen Gassen Tempo 30 zu fahren und das Recht des Autofahrers auch auf Straßen ohne Bürgersteig voll durchzusetzen. In den letzten Jahren gab es häufig kritische und gefährliche Situationen, in vielen Straßen macht das Gehen keinen Spaß mehr, um die Kinder hat man Angst. Viele Kinder werden heute mit dem Auto zur Schule oder zum Kindergarten gebracht. Manche kurze Besorgung wird unnötig mit dem Auto gemacht. Die Verkehrssituation in Handschuhsheim muß deshalb verbessert werden. Ohne große Kosten wäre es möglich, die Fahrzeuggeschwindigkeiten zu verringern. Technisch gibt es dazu mehrere Möglichkeiten wie z.B. Verkehrsberuhigte Bereiche, in denen alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind (in der Weststadt seit 1982 und in Teilen Schlierbachs und Rohrbachs), Verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche, Tempo 15 (wie in Teilen Wieblingens) oder Tempo 10 (wie im Ochsenkopf). In besonders belasteten Hauptstraßen ist es möglich, die Geschwindigkeit auf Tempo 30 zu senken (wie in der Brückenstraße, der Neuenheimer und der Ziegelhäuser Landstraße).

Wir fordern daher, daß auf der übermäßig belasteten Dossenheimer Landstraße geeignete Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur Reduzierung der Lärm- und Abgasbelastungen getroffen werden und im Kernbereich von Handschuhsheim flächenhafte verkehrsberuhigende Maßnahmen eingeleitet werden, die zur Verringerung der Fahrzeuggeschwindigkeiten und zur besseren Ordnung des ruhenden Verkehrs führen." 

Der Text wurde von zahlreichen Handschuhsheimer Persönlichkeiten erstunterzeichnet, u.a. von Rektorinnen und Konrektoren der Handschuhsheimer Schulen, Leiterinnen Handschuhsheimer Kindergärten, Ärzten und z.B. dem Heimatforscher Ludwig Merz. Die Unterschriftensammlung fand regen Zuspruch. Im Juli 1995 wurden in einer Zwischenbilanz der Oberbürgermeisterin 2 000 Unterschriften übergeben, um die Forderung nach Verbesserung der Verkehrssituation zu unterstreichen. Doch schon vorher traf die Unterschriftensammlung auch auf Widerstand. Der Handschuhsheimer Handwerker- und Gewerbeverein befürchtete Nachteile durch eine allzu große Verkehrsberuhigung und initiierte seinerseits eine Unterschriftensammlung gegen eine "flächenhafte Verkehrsberuhigung". Allerdings sprach sich der Handwerker- und Gewerbeverein in seiner Unterschriftensammlung auch dafür aus, "daß an einigen Punkten in Handschuhsheim (z.B. in reinen Wohngebieten), geeignete bauliche und verkehrsberuhigende Maßnahmen eingeleitet werden, die zur Verringerung der oft überhöhten Fahrzeuggeschwindigkeit und zur Lösung der Probleme des ruhenden Verkehrs führen. Wir wollen nicht, daß Kinder und Fußgänger gefährdet werden oder gefährdet sind." Beide Unterschriftensammlungen fanden bis Anfang 1996 jeweils ca. 3 600 Unterschriften Handschuhsheimer Bürgerinnen und Bürger.

Um an einem Strang zu ziehen, setzten sich die beiden Gruppen dann seit Anfang 1996 an einem Runden Tisch zusammen und versuchten, die zum Teil auseinander liegenden Vorstellungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Diskussionen waren interessant, aber man tat sich schwer, zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Erst als der Stadtteilverein Handschuhsheim mit seinem 1. Vorsitzenden Martin Hornig am Runden Tisch teilnahm, konnte der "gordische Knoten" durchtrennt werden. Im März 1997 einigte man sich bei einer Sitzung in der Tiefburg auf eine "Gemeinsame Entschließung", die am 2. Mai 1997 der Oberbürgermeisterin im Rathaus durch Vertreter aller beteiligten Organisationen übergeben werden konnte.

In der Entschließung wird von der Stadtverwaltung gefordert, daß zunächst in zwei Straßen, der Pfarrgasse zwischen Steuben- und Handschuhsheimer Landstraße und der Friedensstraße probeweise verkehrsberuhigte Bereiche eingeführt und die Entwicklung danach beobachtet wird. Wenn sie sich bewähren, sollen auch in den anderen Straßen im Ortskern, in denen keine Bürgersteige für Fußgänger vorhanden sind, weitere verkehrsberuhigte Bereiche realisiert werden. Nach einem halben Jahr und nach einem Ortstermin war es dann soweit: Am 1.12.1997 wurden die beiden verkehrsberuhigten Bereiche in der Pfarrgasse und der Friedensstraße eingeweiht.

Ein verkehrsberuhigter Bereich ist am Anfang und am Ende durch ein blaues Schild mit spielenden Kindern und einem Auto gekennzeichnet. Er bedeutet, daß in diesem Bereich alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt sind und gegenseitig aufeinander Rücksicht nehmen müssen. Der Fahrzeugverkehr muß Schrittgeschwindigkeit einhalten, die Fahrzeugführer dürfen die Fußgänger weder gefährden noch behindern, umgekehrt dürfen auch die Fußgänger den Fahrverkehr nicht unnötig behindern. Die Stellplätze müssen bei Einrichtung eines verkehrsberuhigten Bereiches extra gekennzeichnet werden, Parken ist nur auf den dafür gekennzeichneten Flächen zulässig, ausgenommen zum Be- und Entladen. Maßstab für die Markierung der Stellplätze ist dabei, daß jederzeit Rettungsfahrzeuge durchkommen müssen. Bei den beiden verkehrsberuhigten Bereichen in der Pfarrgasse und Friedensstraße blieb die Zahl der Stellplätze gleich. Im Bereich der Friedensstraße wurden einige Stellplätze tagsüber in Kurzzeit-Parkplätze umgewandelt.

Wie hat sich der Verkehr nun seither entwickelt? Um diese Frage beantworten zu können, wurden vom Gemeindevollzugsdienst vorher bei Tempo-30 und ein dreiviertel Jahr nach Einrichtung des verkehrsberuhigten Bereiches Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt. Die beiden Grafiken zeigen die Ergebnisse. (Die waagerechte Achse gibt die Fahrgeschwindigkeit an, die senkrechte Achse den Prozentsatz der Fahrzeuge, die mit der jeweiligen Geschwindigkeit gefahren sind.)

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Obwohl bis zum zweiten Meßzeitpunkt von Seiten der Stadt noch keine Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt worden waren, zeigt der Vergleich der Messungen, daß die Fahrgeschwindigkeiten deutlich zurückgegangen sind. Während z.B. in der Pfarrgasse früher 77,5% der Fahrzeuge schneller als 20 km/h fuhren, sind es nach Einrichtung des verkehrsberuhigten Bereichs nur noch 15%. In der Friedensstraße fuhren vorher 61% schneller als Tempo-20, im verkehrsberuhigten Bereich nur noch 25%. Allerdings zeigt die Grafik auch, daß auch im verkehrsberuhigten Bereich einige wenige Autos weiterhin mit Tempo 50 durch die enge Friedensstraße rasen. Hier ist die Stadtverwaltung gefordert, durch Geschwindigkeitskontrollen für ein Einhalten der Verkehrsregeln und ein sicheres Miteinander der Verkehrsteilnehmer zu sorgen (weitere interessante Meßergebnisse von Handschuhsheimer Straßen).

Was wurde bisher erreicht ? Alle Geschäfte und Häuser in den verkehrsberuhigten Bereichen sind weiterhin mit dem Auto voll erreichbar, aber die Fahrzeuge fahren jetzt langsamer und vorsichtiger als früher. Dadurch wird es sicherer und es macht wieder mehr Spaß, zu Fuß zu gehen. Autos, Fußgänger und Radler sind in den verkehrsberuhigten Bereichen gleichberechtigt und nehmen mehr Rücksicht aufeinander. Also eine schöne Verbesserung, die nicht viel kostet. Und ein vorbildlicher Einigungsprozeß in Handschuhsheim.

Dieter Teufel, Januar 1999

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